Illustration einer demonstrierenden, diversen Menschengruppe vor einem Banner, auf dem groß „Solidarität“ steht.

69 Prozent aller Deutschen wün­schen sich eine Gesellschaft mit weniger Egoismus. Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019

Solidarität ist ein heute häufig bemühter Begriff. Viele Menschen verwenden ihn, fordern uns auf, soli­darisch mit anderen zu sein – ohne immer genau zu definieren, was damit gemeint ist, was wir konkret tun sollen. Bei der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Bedeutung des Begriffs dagegen klar: Alle Unterneh­men bilden gemeinsam eine Solidargemeinschaft, in der die Stärkeren die Schwächeren unterstützen. Das ist das sogenannte Solidaritäts- oder Solidarprinzip.

Es ist – nicht nur in der Unfallversicherung – das wichtigste und zentrale Prinzip der deutschen Sozial­versicherung. Für die gesetzliche Unfallversicherung bedeutet es, dass die Arbeitsunfall- und Berufskrank­heitsrisiken von allen Unternehmen gemeinsam ge­tragen werden. So weit, so einfach. Doch was der So­lidaritätsgedanke in der Praxis bedeutet, welche vielen Vorteile er für die Mitgliedsunternehmen und ihre Mit­arbeitenden hat, wie er das Handeln der Berufsgenos­senschaft auf allen Ebenen durchdringt – das lohnt einen genaueren Blick.

Eine solidarische Lösung von Anfang an

Das Unfallversicherungsgesetz wurde am 6. Juli 1884 vom Reichstag beschlossen. Durch die Industrialisie­rung waren zahlreiche neue Arbeitsplätze in Fabriken entstanden, allerdings zu katastrophalen Bedingun­gen, was Gesundheit und Arbeitssicherheit betraf. Die Zahl der Arbeitsunfälle erreichte schwindelerregende Höhen. Nach einem Unfall hatten Arbeitnehmende meist keine finanzielle Absicherung. Um den ­sozialen Frieden zu wahren, musste gehandelt werden. Der da­malige Reichskanzler Bismarck löste das Problem, in­dem er die weltweit erste gesetzliche Unfallversiche­rung einführte.

Die ersten Berufsgenossenschaften als Träger der neuen Versicherung gründeten sich 1885. Finanziert werden sie bis heute ausschließlich von den Arbeitge­bern. Diese sind im Gegenzug von ihrer zivilrechtlichen Haftpflicht befreit. Eventuelle Ansprüche von Mitarbei­tenden richten sich an die Berufsgenossenschaft, nicht an das einzelne Unternehmen.

Andere Länder, andere Systeme

Diese sogenannte Haftungsablösung erwies sich als gut funktionierendes Prinzip, das Unternehmen wirksam vor finanziellem Schaden bewahrt. Wie praktisch und existenzsichernd eine solche Unfallversicherung ist, wird vielen erst im Schadensfall bewusst. Schließlich kostet schon ein durchschnittlicher Arbeitsunfall wie ein Sturz schnell mehrere Tausend Euro, wenn man die Kosten für Behandlung, Lohnfortzahlung und Arbeits­ausfall zusammenrechnet. Bei schwerwiegenden Un­fällen oder Krankheiten können diese Kosten aber auch weit höher sein und in die Hunderttausende oder sogar Millionen gehen. Solche Summen sind für die meisten Unternehmen existenzbedrohend.

Manchmal reicht aber schon der Blick auf andere Län­der, um das deutsche System der gesetzlichen Unfall­versicherung schätzen zu lernen. Denn in Staaten, die das Prinzip der Haftungsablösung durch die Unfallver­sicherung nicht kennen, müssen Unternehmen privat­rechtlich für Unfälle und Berufskrankheiten haften. Das ist teuer und bringt viel Unsicherheit mit sich. Aber selbst wo es solidarische Systeme gibt, kann es für Un­ternehmen teuer werden.

So wird zum Beispiel in Großbritannien die Unfall­versicherung paritätisch von Unternehmen und Staat finanziert. Aber die Leistungen für Betroffene liegen nur knapp über dem Existenzminimum – und auch der Weg der zivilrechtlichen Klage bleibt offen. Britische Unternehmen schließen aus diesem Grund zum Teil teure private Zusatzversicherungen ab. In den USA gibt es zwar eine Unfallversicherung, aber die Unternehmen sind ebenfalls nicht vor privaten Schadensersatzklagen sicher. Auch private Unfallversicherungen sind keine Garantie, aus jeglicher Haftung entlassen zu werden. So können in Finnland Unfallopfer zusätzliche Ent­schädigungen einklagen. Schweizer Betriebe müssen bei Unfällen und Berufskrankheiten in Vorleistung tre­ten und sich mit der dortigen Unfallversicherung über die Rückerstattung auseinandersetzen.

Keine Abstriche bei den Leistungen

Im Vergleich dazu genießen deutsche Unternehmen Rechtssicherheit und den Vorteil, den Großteil der Kos­ten eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit nicht selbst stemmen zu müssen: Behandlung, Nach­sorge sowie finanzielle Hilfen für Versicherte wie Ver­letztengeld oder Renten werden von der zuständigen Berufsgenossenschaft übernommen.

Die Versicherten profitieren ebenfalls, denn die Berufsgenossenschaften leisten im Gegensatz zu vielen privaten Versicherungen immer nach dem Prinzip der bestmöglichen Behandlung. Es ist ihre Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten mit allen geeigneten Mit­teln wiederherzustellen – und damit die Teilhabe am Arbeitsleben und im gesellschaftlichen Leben wieder zu ermöglichen. Deshalb werden Versicherte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln behandelt. Dass sie alle wichtigen Leistungen aus einer Hand erhalten, auch da­rin zeigt sich der Solidaritätsgedanke, der den Berufsge­nossenschaften zugrundeliegt.

68

Prozent der Deut­schen wünschen sich eine Steige­rung der Hilfsbe­reitschaft unter­einander. 

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019

Eine Menschenkette mit Mund-Nasen-Masken im Inneren eines durchnässten Untergeschoss-Raums mit lehmfarbenem Wasser und Steinen auf dem Boden. Die Menschenkette reicht sich Eimer weiter, die schließlich durch ein Fenster nach draußen gelangen.

Beim Helfen geschützt:
Nach der Flutkatastrophe 2021 sind viele Menschen spontan in die Katastropenregionen gekommen, um den Menschen vor Ort schnell zu helfen – ohne zuerst an die eigene Sicherheit zu denken. Die gesetzliche Unfallversicherung schützt aber auch Personen, die sich im Interesse der Allgemeinheit besonders ein­setzen, zum Beispiel bei Überschwemmungen – deshalb sind sie beitragsfrei unfallversichert.

Ein Hallen-Flohmarkt, auf dem zwei Frauen mit Handschuhen und Mund-Nasen-Masken vor einem Stand mit Kleidung stehen und jeweils ein T-Shirts hochhalten und begutachten.  Sorgsamer Umgang mit Geld ist selbstvers

In der Freizeit Gutes tun:
Besonders bei Katastrophen ist die Hilfsbereitschaft groß. Sowohl für die Opfer der Flut 2021 als auch für die Ukraine wurden Rekordsummen gegeben, aber auch viele Sachspen­den. Sie müssen von Ehrenamtlichen sortiert werden, bevor sie verschickt werden können. Wenn Unternehmen Mitarbeitende bei ihrem Engagement unterstützen, ist das nicht nur solida­risch – es fördert auch die Bindung an den Betrieb.

Sorgsamer Umgang mit Geld ist selbstverständlich

Doch wer Geld ausgibt, muss es auch einnehmen. Die vielen verschiedenen Aufgaben der BG ETEM werden durch ihre Mitgliedsunternehmen in einem nachträglichen Umlageverfahren finanziert, die Beiträge werden also jeweils für das vergangene Jahr erhoben. Sie sind genau so hoch, dass sie die Kosten für die gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben decken – Gewinne entstehen keine. Im Rahmen des Solidaritätsprinzips werden die Kosten dabei auf alle Mitgliedsunternehmen umgelegt. Unternehmen, die wenig Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten haben, bekommen aber einen Nachlass auf den Beitrag.

Weil es nur die Beiträge der Mitgliedsbetriebe sind, die ihre Arbeit finanzieren, geht die BG ETEM mit dem Geld besonders sorgfältig um. Auch das gehört zum Solidaritätsgedanken. Der überwiegende Teil des Geldes, das die BG ETEM ausgibt, mehr als 80 Prozent, fließt wieder zurück in die Unternehmen und ihre Versicherten – zum Beispiel in Form von Behandlungen, Renten oder fachlicher Unterstützung bei der Prävention. Verwaltungskosten machten in den letzten Jahren dagegen weniger als 8 Prozent aus.

Damit das System der gemeinsamen Verantwortung von allen Beteiligten als fair empfunden wird, ist es wichtig, unterschiedliche Risiken auch unterschiedlich zu behandeln. Denn nicht alle beruflichen Tätigkeiten sind gleich gefährlich. Und das muss sich auch in den Beiträgen niederschlagen. Berufsgenossenschaften sind daher gesetzlich verpflichtet, einen sogenannten Gefahrtarif aufzustellen. Er ist das zentrale Instrument, um die Beiträge dem Unfallrisiko entsprechend abzustufen. Je weniger Kosten für Unfälle und Berufskrankheiten in einem Gewerbezweig anfallen, desto günstiger wird der Beitrag. Damit bleibt die gesamte Konstruktion weiterhin solidarisch, gleichzeitig ­werden spezifische Risiken einzelner Branchen aber berücksichtigt.

Unterschiedliche Risiken werden berücksichtigt

Praktisch funktioniert das so: Jedes Unternehmen gehört zu einem bestimmten Gewerbezweig. Daraus ergibt sich die Veranlagung zu einer Gefahrtarifstelle. Gewerbezweige, die technologisch verwandt sind oder vergleichbare Gefährdungsrisiken aufweisen, werden dabei zusammengefasst. Für jede Gefahrtarifstelle wird wiederum eine eigene Gefahrklasse errechnet. Sie spiegelt das durchschnittliche Risiko der Tätigkeiten in dieser Gefahrtarifstelle wider. Die Gefahrklasse einer Tarifstelle gilt für alle Unternehmen der Gefahrengemeinschaft unabhängig vom Einzelrisiko. Bei der Beitragsberechnung ist die Gefahrklasse aber nur ein Faktor unter mehreren. Grundsätzlich gilt dennoch: Je höher die Gefahrklasse, desto höher der Beitrag, den ein Unternehmen leisten muss.

67

Prozent aller Deutschen wünschen sich mehr Solidarität und Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019

Wie solidarisch handeln wir?

Worauf würden Sie verzichten, um den Klimawandel zu bekämpfen?

Tortendiagramm mit Antworten zur Umfrage „Worauf würden Sie verzichten, um den Klimawandel zu bekämpfen?“. Die meisten, 39 von 100, sagen Fliegen, dahinter folgen Video-Streaming, Fleisch, Eigenes Auto und Neue Kleidung. Jede der fünf Antworten ist auch als Symbolbild illustriert. Quelle: Statista/CEval 2021

Quelle: Statista/CEval 2021

Welche persönlichen Motive leiten Sie dazu, fair gehandelte Produkte zu kaufen?

Balkendiagramm zur Umfrage „Welche persönlichen Motive leiten Sie dazu, fair gehandelte Produkte zu kaufen?“. Die Einheit der Werte ist nicht angegeben, vermutlich Prozent. Die ersten acht von neun Antworten liegen nah beieinander, zwischen 79,3 und 94,7. Die meisten sagen „Keine Kinderarbeit“. Quelle: Europäische Investitionsbank 2021

Quelle: Europäische Investitionsbank 2021

Zusammenhalt in der Arbeitswelt

Wenn Solidarität eine so wichtige Rolle innerhalb der Berufsgenossenschaften spielt – was ist mit den Unter­nehmen und ihren Beschäftigten? Müssen sie auch soli­darisch sein? Und wenn ja, was bedeutet das konkret? Diese Frage lässt sich aus zwei Perspektiven beantwor­ten: der engeren Perspektive der Arbeitssicherheit und der weiteren des sozialen Miteinanders.

Aus der Perspektive der Arbeitssicherheit bedeu­tet Solidarität, dass sich alle an die geltenden Regeln halten. Denn die sind dazu da, Schaden von den Mit­arbeitenden abzuwenden. Indem ich die Regeln res­pektiere und befolge, zeige ich mich solidarisch. Nicht nur, weil ich Verantwortung auch für meine Kollegin­nen und Kollegen beziehungsweise meine Belegschaft übernehme, sondern auch, weil ich keine vermeidba­ren Ausgaben für die Solidargemeinschaft produziere. Denn jeder Unfall und jede Berufskrankheit kostet viel Geld. Geld, das letztlich von allen bezahlt wird.

Solidarität ist nicht immer einfach

Solidarität kann aus dieser Perspektive auch bedeuten, Dinge aus Rücksicht auf andere zu tun, obwohl man sie selbst eigentlich nicht machen will. Bestes Beispiel dafür ist die Schutzimpfung gegen Corona – junge Menschen, die ein geringes Risiko für schwere Verläufe haben, lassen sich häufig dennoch impfen, weil sie andere Menschen mit größerem Risiko schützen wollen. So vermeiden sie unnötige Erkrankungen. Und manchmal geht es darum, Probleme zu benennen. Das kann die mangelnde sicherheitstechnische Ausstattung eines Arbeitsplatzes sein, riskantes und regelwidriges Verhalten von Mitarbeitenden oder auch häufige Beinahe-Unfälle. Das erfordert Mut, denn häufig wird ein solches Verhalten von Kolleginnen und Kollegen als unsoli­darisch bezeichnet. Es ist aber das genaue Gegenteil, denn es dient der Sicherheit von allen.

Besser miteinander umgehen

Aus der größeren Perspektive des sozialen Miteinanders bedeutet Solidarität, nicht nur im Privaten, sondern auch auf der Arbeit rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Insbesondere mit Menschen, die aus den verschiedensten Gründen Probleme in der Leistungsgesellschaft haben. Das können Menschen mit körperlichen Behinderungen oder chronischen Krankheiten sein, aber auch einfach Menschen, die gerade nicht ihre volle Leistungsfähigkeit besitzen, zum Beispiel wegen privater Belastungen.

52

Prozent aller Deutschen wünschen, dass mehr Rücksicht auf Schwache genommen wird.

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019

Wie viel Deutsche spenden

Zeitraum: Januar bis Dezember 2021

Euroscheine, neben denen steht: Spenden: 5,8 Mrd. Euro. Auf einem türkisen Kreis darunter steht groß „+ 7 %“, mit einem sehr kleinen „vs. 2020“ darunter. Quelle: GfK Charity Panel 2021

Quelle: GfK Charity Panel 2021

Suche nach „Solidarität“

Suchanfragen von Januar bis Dezember 2021

Volumendiagramm zum Stichwort „Suche nach „Solidarität“. Suchanfragen von Januar bis Dezember 2021“: Kreise in verschiedenen Größen zeigen die Unterschiede von Werten verschiedener Länder. Mexiko und USA liegen mit 74000 knapp vor Brasilien mit 60500, weit darunter folgen erst Frankreich mit 22000 und andere. Quelle: sistrix.de 2021 (Suchanfragen).

Quelle: sistrix.de 2021

Wie ernst eine Gesellschaft es mit der Solidarität meint, zeigt sich dann, wenn nicht warme Worte ge­fragt sind, sondern Taten. Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt ist dafür ein gutes Beispiel. Hier hat sich in den letzten Jahren eini­ges in Deutschland getan, wie das Inklusionsbarome­ter von Aktion Mensch zeigt. Seit 2013 erstellt die Or­ganisation gemeinsam mit dem Handelsblatt Research Institute eine Studie, um Fortschritte oder Rückschritte bei der Inklusion in der Arbeitswelt zu messen und langfristig zu beobachten. Insgesamt verbesserte sich die Inklusionslage bis zum Berichtsjahr 2019 fast stetig, bevor die Coronapandemie auch in diesem Bereich zu einer deutlichen Verschlechterung führte. So stieg die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Behinderung 2020 sprunghaft an. Die Arbeitslosenquote der Schwerbe­hinderten stieg sogar erstmals seit dem Erscheinen des Inklusionsbarometers.

Inklusion ist gelebte Solidarität

Langfristig betrachtet überwiegt aber die gute Bot­schaft, dass deutsche Unternehmen mehr und mehr dazu bereit sind, Menschen mit Einschränkungen eine Chance zu geben. Selbst dann, wenn es ihrerseits einen großen Einsatz fordert. Unterstützt werden die Mitgliedsbetriebe dabei durch die BG ETEM. Sie hilft ihnen, Mitarbeitenden nach einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit die Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz zu ermöglichen – zum Beispiel durch den Umbau des Arbeitsplatzes oder das Bereitstellen von Hilfsmitteln.

Gerade Unternehmen können viel zu einer erfolg­reichen Wiedereingliederung beitragen. Ihr Engage­ment nutzt natürlich den Betroffenen, aber auch den Unternehmen selbst, weil so Arbeitskraft, Wissen und Erfahrung im Betrieb bleiben. Es geht zusätzlich aber darum anzuerkennen, was ein Mensch zu leisten im Stande ist – und nicht das in den Vordergrund zu stel­len, was ihm auf Grund einer Behinderung vielleicht verwehrt ist.

Diese Haltung ist nicht selbstverständlich. Des­halb zeichnet die BG ETEM alle zwei Jahre Mitglieds­unternehmen aus, die sich bei der Wiedereingliederung von verletzten oder erkrankten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besonders vorbildlich verhalten haben. Denn über den einzelnen Fall und das einzelne Unter­nehmen hinaus bedeutet eine gleichberechtigte Be­schäftigung von Menschen mit und ohne Behinderung auch gelebte Solidarität.