Solidarität ist ein heute häufig bemühter Begriff. Viele Menschen verwenden ihn, fordern uns auf, solidarisch mit anderen zu sein – ohne immer genau zu definieren, was damit gemeint ist, was wir konkret tun sollen. Bei der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Bedeutung des Begriffs dagegen klar: Alle Unternehmen bilden gemeinsam eine Solidargemeinschaft, in der die Stärkeren die Schwächeren unterstützen. Das ist das sogenannte Solidaritäts- oder Solidarprinzip.
Es ist – nicht nur in der Unfallversicherung – das wichtigste und zentrale Prinzip der deutschen Sozialversicherung. Für die gesetzliche Unfallversicherung bedeutet es, dass die Arbeitsunfall- und Berufskrankheitsrisiken von allen Unternehmen gemeinsam getragen werden. So weit, so einfach. Doch was der Solidaritätsgedanke in der Praxis bedeutet, welche vielen Vorteile er für die Mitgliedsunternehmen und ihre Mitarbeitenden hat, wie er das Handeln der Berufsgenossenschaft auf allen Ebenen durchdringt – das lohnt einen genaueren Blick.
Eine solidarische Lösung von Anfang an
Das Unfallversicherungsgesetz wurde am 6. Juli 1884 vom Reichstag beschlossen. Durch die Industrialisierung waren zahlreiche neue Arbeitsplätze in Fabriken entstanden, allerdings zu katastrophalen Bedingungen, was Gesundheit und Arbeitssicherheit betraf. Die Zahl der Arbeitsunfälle erreichte schwindelerregende Höhen. Nach einem Unfall hatten Arbeitnehmende meist keine finanzielle Absicherung. Um den sozialen Frieden zu wahren, musste gehandelt werden. Der damalige Reichskanzler Bismarck löste das Problem, indem er die weltweit erste gesetzliche Unfallversicherung einführte.
Die ersten Berufsgenossenschaften als Träger der neuen Versicherung gründeten sich 1885. Finanziert werden sie bis heute ausschließlich von den Arbeitgebern. Diese sind im Gegenzug von ihrer zivilrechtlichen Haftpflicht befreit. Eventuelle Ansprüche von Mitarbeitenden richten sich an die Berufsgenossenschaft, nicht an das einzelne Unternehmen.
Andere Länder, andere Systeme
Diese sogenannte Haftungsablösung erwies sich als gut funktionierendes Prinzip, das Unternehmen wirksam vor finanziellem Schaden bewahrt. Wie praktisch und existenzsichernd eine solche Unfallversicherung ist, wird vielen erst im Schadensfall bewusst. Schließlich kostet schon ein durchschnittlicher Arbeitsunfall wie ein Sturz schnell mehrere Tausend Euro, wenn man die Kosten für Behandlung, Lohnfortzahlung und Arbeitsausfall zusammenrechnet. Bei schwerwiegenden Unfällen oder Krankheiten können diese Kosten aber auch weit höher sein und in die Hunderttausende oder sogar Millionen gehen. Solche Summen sind für die meisten Unternehmen existenzbedrohend.
Manchmal reicht aber schon der Blick auf andere Länder, um das deutsche System der gesetzlichen Unfallversicherung schätzen zu lernen. Denn in Staaten, die das Prinzip der Haftungsablösung durch die Unfallversicherung nicht kennen, müssen Unternehmen privatrechtlich für Unfälle und Berufskrankheiten haften. Das ist teuer und bringt viel Unsicherheit mit sich. Aber selbst wo es solidarische Systeme gibt, kann es für Unternehmen teuer werden.
So wird zum Beispiel in Großbritannien die Unfallversicherung paritätisch von Unternehmen und Staat finanziert. Aber die Leistungen für Betroffene liegen nur knapp über dem Existenzminimum – und auch der Weg der zivilrechtlichen Klage bleibt offen. Britische Unternehmen schließen aus diesem Grund zum Teil teure private Zusatzversicherungen ab. In den USA gibt es zwar eine Unfallversicherung, aber die Unternehmen sind ebenfalls nicht vor privaten Schadensersatzklagen sicher. Auch private Unfallversicherungen sind keine Garantie, aus jeglicher Haftung entlassen zu werden. So können in Finnland Unfallopfer zusätzliche Entschädigungen einklagen. Schweizer Betriebe müssen bei Unfällen und Berufskrankheiten in Vorleistung treten und sich mit der dortigen Unfallversicherung über die Rückerstattung auseinandersetzen.
Keine Abstriche bei den Leistungen
Im Vergleich dazu genießen deutsche Unternehmen Rechtssicherheit und den Vorteil, den Großteil der Kosten eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit nicht selbst stemmen zu müssen: Behandlung, Nachsorge sowie finanzielle Hilfen für Versicherte wie Verletztengeld oder Renten werden von der zuständigen Berufsgenossenschaft übernommen.
Die Versicherten profitieren ebenfalls, denn die Berufsgenossenschaften leisten im Gegensatz zu vielen privaten Versicherungen immer nach dem Prinzip der bestmöglichen Behandlung. Es ist ihre Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen – und damit die Teilhabe am Arbeitsleben und im gesellschaftlichen Leben wieder zu ermöglichen. Deshalb werden Versicherte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln behandelt. Dass sie alle wichtigen Leistungen aus einer Hand erhalten, auch darin zeigt sich der Solidaritätsgedanke, der den Berufsgenossenschaften zugrundeliegt.
68
Prozent der Deutschen wünschen sich eine Steigerung der Hilfsbereitschaft untereinander.
Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019
Inklusion: Rehabilitationspreis
Für die vorbildliche Kooperation bei der Wiedereingliederung eines Beschäftigten wurde die Speira GmbH von der BG ETEM ausgezeichnet.
Bei einem schweren Arbeitsunfall mit bleibenden körperlichen Schäden ist plötzlich nichts mehr, wie es mal war. Die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt hilft, in einer neuen Normalität anzukommen. Im Fall von Peter Friedl, der mit beiden Händen in eine Aluwalze geriet, kooperierte sein Arbeitgeber vorbildlich: Das Unternehmen war bereit, gemeinsam mit dem Mitarbeiter und dem Reha-Management der BG ETEM an einer echten Weiterbeschäftigungsperspektive zu arbeiten. Das hatte positive Auswirkungen auf Friedls Genesungsprozess und machte ihm neuen Lebensmut.
In den Augen des betreuenden Reha- Managers Christian Schweier verlief die Wiedereingliederung vor allem dank der Firma optimal, und das bei solch schlech-ten medizinischen Voraussetzungen:
„Die Ärzte konnten bei Peter Friedl nach mehrfachen Operationen im Krankenhaus nur die Stümpfe und die Daumen im Sinne einer sogenannten Fausthand erhalten.“ Es schloss sich ein intensives Heilverfahren mit zahlreichen Operationen und Rehabilitationsmaßnahmen an.
Aber sein Arbeitgeber hielt zu ihm: Nach Krankenhaus und Reha-Aufenthalt von insgesamt einem Jahr bot ihm die Speira GmbH eine alternative Arbeitsposition in der Qualitätskontrolle. Mit Unterstützung der BG ETEM konnte in der Qualitätssicherung für Peter Friedl ein maßgeschneiderter Arbeitsplatz eingerichtet werden. Die erforderlichen Geräte wurden speziell für Peter Friedl umgebaut und angepasst. So ist er auch nach seinem Unfall weiterhin ein geschätzter Mitarbeiter seiner Firma.
→ Mehr Informationen zum Rehabilitationspreis: www.bgetem.de, Webcode 13802562
Sorgsamer Umgang mit Geld ist selbstverständlich
Doch wer Geld ausgibt, muss es auch einnehmen. Die vielen verschiedenen Aufgaben der BG ETEM werden durch ihre Mitgliedsunternehmen in einem nachträglichen Umlageverfahren finanziert, die Beiträge werden also jeweils für das vergangene Jahr erhoben. Sie sind genau so hoch, dass sie die Kosten für die gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben decken – Gewinne entstehen keine. Im Rahmen des Solidaritätsprinzips werden die Kosten dabei auf alle Mitgliedsunternehmen umgelegt. Unternehmen, die wenig Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten haben, bekommen aber einen Nachlass auf den Beitrag.
Weil es nur die Beiträge der Mitgliedsbetriebe sind, die ihre Arbeit finanzieren, geht die BG ETEM mit dem Geld besonders sorgfältig um. Auch das gehört zum Solidaritätsgedanken. Der überwiegende Teil des Geldes, das die BG ETEM ausgibt, mehr als 80 Prozent, fließt wieder zurück in die Unternehmen und ihre Versicherten – zum Beispiel in Form von Behandlungen, Renten oder fachlicher Unterstützung bei der Prävention. Verwaltungskosten machten in den letzten Jahren dagegen weniger als 8 Prozent aus.
Damit das System der gemeinsamen Verantwortung von allen Beteiligten als fair empfunden wird, ist es wichtig, unterschiedliche Risiken auch unterschiedlich zu behandeln. Denn nicht alle beruflichen Tätigkeiten sind gleich gefährlich. Und das muss sich auch in den Beiträgen niederschlagen. Berufsgenossenschaften sind daher gesetzlich verpflichtet, einen sogenannten Gefahrtarif aufzustellen. Er ist das zentrale Instrument, um die Beiträge dem Unfallrisiko entsprechend abzustufen. Je weniger Kosten für Unfälle und Berufskrankheiten in einem Gewerbezweig anfallen, desto günstiger wird der Beitrag. Damit bleibt die gesamte Konstruktion weiterhin solidarisch, gleichzeitig werden spezifische Risiken einzelner Branchen aber berücksichtigt.
Unterschiedliche Risiken werden berücksichtigt
Praktisch funktioniert das so: Jedes Unternehmen gehört zu einem bestimmten Gewerbezweig. Daraus ergibt sich die Veranlagung zu einer Gefahrtarifstelle. Gewerbezweige, die technologisch verwandt sind oder vergleichbare Gefährdungsrisiken aufweisen, werden dabei zusammengefasst. Für jede Gefahrtarifstelle wird wiederum eine eigene Gefahrklasse errechnet. Sie spiegelt das durchschnittliche Risiko der Tätigkeiten in dieser Gefahrtarifstelle wider. Die Gefahrklasse einer Tarifstelle gilt für alle Unternehmen der Gefahrengemeinschaft unabhängig vom Einzelrisiko. Bei der Beitragsberechnung ist die Gefahrklasse aber nur ein Faktor unter mehreren. Grundsätzlich gilt dennoch: Je höher die Gefahrklasse, desto höher der Beitrag, den ein Unternehmen leisten muss.
67
Prozent aller Deutschen wünschen sich mehr Solidarität und Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019
Wie solidarisch handeln wir?
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Inklusion: Paralympische Spiele
Seit 1988 ist Ottobock bei allen Paralympischen Spielen dabei und ebnet Athletinnen und Athleten den Weg für einen sportlich-fairen Wettkampf.
Seit über drei Jahrzehnten engagiert sich das Medizintechnikunternehmen Ottobock für den paralympischen Sport. Unter dem Motto „Passion for Paralympics“ setzt sich der Mitgliedsbetrieb der BG ETEM für die Mobilität der Athletinnen und Athleten ein und stellt ihnen während der Spiele einen kostenlosen Reparaturservice zur Verfügung. Eine wichtige Unterstützung, denn viele Sportlerinnen und Sportler der Paralympics gehen mit technischen Hilfsmitteln an den Start, die im Wettkampf extremen Belastungen ausgesetzt sind – eine Beschädigung würde in vielen Fällen das Aus bedeuten. Ein technischer Service während der Paralympics ist daher unerlässlich.
Das langjährige Engagement von Ottobock bei den Paralympics begann 1988. Vier Orthopädie-Techniker aus Australien erkannten bei den Paralympischen Sommerspielen in Seoul die Notwendigkeit, die Reparatur und Wartung von Sportgeräten anzubieten. Kurzerhand bauten die Techniker von Ottobock einen Pavillon auf, der als Arbeitsstätte diente. Aus dieser improvisierten Werkstatt entstand über die Jahre etwas Großes, denn seitdem ist Ottobock bei allen Paralympischen Spielen dabei. Den technischen Service hat das Unternehmen auch bei nationalen und internationalen Sportveranstaltungen wie den Commonwealth Games oder Weltmeisterschaften angeboten.
400
Reparaturen hat das Team von Ottobock während den Paralympics in Peking ungefähr ausgeführt.
Bei den Paralympischen Winterspielen 2022 in Peking bot Ottobock seinen Service 22 Tage lang an insgesamt 3 Standorten in Peking, Yanqing und Zhangjiakou an. Insgesamt führte das internationale Team während der Spiele fast 400 Reparaturen durch. In jeder der drei Werkstätten standen Fachkräfte wie Ortopädietechniker oder Rollstuhlexpertinnen bereit, um allen Bedürfnissen der Para-Sportlerinnen und -Sportler gerecht zu werden.
Ganz nach dem Motto „Geht nicht, gibt’s nicht“, konnte so jede Reparatur bewältigt werden. Neben kleineren Routinearbeiten wie beschädigten Rollstuhlreifen wurden auch ganze Prothesenteile repariert – und das oft unter großem Zeitdruck. Auch Kreativität war bei so mancher Spezialanfertigung gefragt. So ermöglichte das OttobockTeam einem Athleten, bei der Eröffnungsfeier die Fahne für sein Land selbst in das Olympiastadion in Peking zu tragen: Eine individuelle Vorrichtung für seine Unterarm-Gehstütze war die Lösung. Das nächste Highlight steht für das Serviceteam mit den paralympischen Sommerspielen 2024 in Paris schon bevor. Die Vorbereitungen dafür haben bereits begonnen.
„Der paralympische Sport hat seinen ganz eigenen Geist, seinen speziellen Touch. Da geht es komplett um Motivation, nicht nur für Menschen mit Amputationen und Handicaps, sondern für die Gesellschaft als Ganzes.“
Heinrich Popow
Ehemaliger Para-Leichtathlet und Goldmedaillengewinner
Zusammenhalt in der Arbeitswelt
Wenn Solidarität eine so wichtige Rolle innerhalb der Berufsgenossenschaften spielt – was ist mit den Unternehmen und ihren Beschäftigten? Müssen sie auch solidarisch sein? Und wenn ja, was bedeutet das konkret? Diese Frage lässt sich aus zwei Perspektiven beantworten: der engeren Perspektive der Arbeitssicherheit und der weiteren des sozialen Miteinanders.
Aus der Perspektive der Arbeitssicherheit bedeutet Solidarität, dass sich alle an die geltenden Regeln halten. Denn die sind dazu da, Schaden von den Mitarbeitenden abzuwenden. Indem ich die Regeln respektiere und befolge, zeige ich mich solidarisch. Nicht nur, weil ich Verantwortung auch für meine Kolleginnen und Kollegen beziehungsweise meine Belegschaft übernehme, sondern auch, weil ich keine vermeidbaren Ausgaben für die Solidargemeinschaft produziere. Denn jeder Unfall und jede Berufskrankheit kostet viel Geld. Geld, das letztlich von allen bezahlt wird.
Solidarität ist nicht immer einfach
Solidarität kann aus dieser Perspektive auch bedeuten, Dinge aus Rücksicht auf andere zu tun, obwohl man sie selbst eigentlich nicht machen will. Bestes Beispiel dafür ist die Schutzimpfung gegen Corona – junge Menschen, die ein geringes Risiko für schwere Verläufe haben, lassen sich häufig dennoch impfen, weil sie andere Menschen mit größerem Risiko schützen wollen. So vermeiden sie unnötige Erkrankungen. Und manchmal geht es darum, Probleme zu benennen. Das kann die mangelnde sicherheitstechnische Ausstattung eines Arbeitsplatzes sein, riskantes und regelwidriges Verhalten von Mitarbeitenden oder auch häufige Beinahe-Unfälle. Das erfordert Mut, denn häufig wird ein solches Verhalten von Kolleginnen und Kollegen als unsolidarisch bezeichnet. Es ist aber das genaue Gegenteil, denn es dient der Sicherheit von allen.
Besser miteinander umgehen
Aus der größeren Perspektive des sozialen Miteinanders bedeutet Solidarität, nicht nur im Privaten, sondern auch auf der Arbeit rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Insbesondere mit Menschen, die aus den verschiedensten Gründen Probleme in der Leistungsgesellschaft haben. Das können Menschen mit körperlichen Behinderungen oder chronischen Krankheiten sein, aber auch einfach Menschen, die gerade nicht ihre volle Leistungsfähigkeit besitzen, zum Beispiel wegen privater Belastungen.
52
Prozent aller Deutschen wünschen, dass mehr Rücksicht auf Schwache genommen wird.
Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019
Wie viel Deutsche spenden
Zeitraum: Januar bis Dezember 2021
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Suchanfragen von Januar bis Dezember 2021
Wie ernst eine Gesellschaft es mit der Solidarität meint, zeigt sich dann, wenn nicht warme Worte gefragt sind, sondern Taten. Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt ist dafür ein gutes Beispiel. Hier hat sich in den letzten Jahren einiges in Deutschland getan, wie das Inklusionsbarometer von Aktion Mensch zeigt. Seit 2013 erstellt die Organisation gemeinsam mit dem Handelsblatt Research Institute eine Studie, um Fortschritte oder Rückschritte bei der Inklusion in der Arbeitswelt zu messen und langfristig zu beobachten. Insgesamt verbesserte sich die Inklusionslage bis zum Berichtsjahr 2019 fast stetig, bevor die Coronapandemie auch in diesem Bereich zu einer deutlichen Verschlechterung führte. So stieg die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Behinderung 2020 sprunghaft an. Die Arbeitslosenquote der Schwerbehinderten stieg sogar erstmals seit dem Erscheinen des Inklusionsbarometers.
Inklusion ist gelebte Solidarität
Langfristig betrachtet überwiegt aber die gute Botschaft, dass deutsche Unternehmen mehr und mehr dazu bereit sind, Menschen mit Einschränkungen eine Chance zu geben. Selbst dann, wenn es ihrerseits einen großen Einsatz fordert. Unterstützt werden die Mitgliedsbetriebe dabei durch die BG ETEM. Sie hilft ihnen, Mitarbeitenden nach einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit die Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz zu ermöglichen – zum Beispiel durch den Umbau des Arbeitsplatzes oder das Bereitstellen von Hilfsmitteln.
Gerade Unternehmen können viel zu einer erfolgreichen Wiedereingliederung beitragen. Ihr Engagement nutzt natürlich den Betroffenen, aber auch den Unternehmen selbst, weil so Arbeitskraft, Wissen und Erfahrung im Betrieb bleiben. Es geht zusätzlich aber darum anzuerkennen, was ein Mensch zu leisten im Stande ist – und nicht das in den Vordergrund zu stellen, was ihm auf Grund einer Behinderung vielleicht verwehrt ist.
Diese Haltung ist nicht selbstverständlich. Deshalb zeichnet die BG ETEM alle zwei Jahre Mitgliedsunternehmen aus, die sich bei der Wiedereingliederung von verletzten oder erkrankten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besonders vorbildlich verhalten haben. Denn über den einzelnen Fall und das einzelne Unternehmen hinaus bedeutet eine gleichberechtigte Beschäftigung von Menschen mit und ohne Behinderung auch gelebte Solidarität.
Inklusion: ein Exoskelett von der BG ETEM
Was medizinisch sinnvoll ist, wird von der BG ETEM möglich gemacht. Für Versicherte kann das im Alltag eine große Erleichterung bedeuten.
Wenn Thorsten Röhrmann sich ohne Rollstuhl fortbewegen will, muss er zunächst sein Exoskelett anziehen. Dazu schwingt er sich aus dem Rollstuhl auf eine Bank und fixiert das komplexe System aus Schienen, Elektromotoren und Steuerungselementen mit Gurten an seinem Körper. Etwa fünf Minuten dauert es, bis Mensch und Maschine verbunden sind. Dann ist Thorsten Röhrmann bereit. Gesteuert wird das Exoskelett über ein Bedienelement, das wie eine Uhr am Handgelenk getragen wird. Wenn er auf „Laufen“ tippt, schwingt das rechte Bein zunächst zurück und macht dann erst den Schritt nach vorn. So geht es im Wechsel mit dem linken Bein immer weiter: Thorsten Röhrmann geht.
Auf das Exoskelett aufmerksam wurde er während eines Reha-Aufenthalts am Meer. Ein anderer Rollstuhlfahrer zeigte ihm auf dem Handy ein Video dazu. Thorsten Röhrmann vereinbarte in einer Physiotherapiepraxis ein Probetraining. „Nach 21 Jahren zum ersten Mal wieder zu stehen und den Körper zu spüren, das war ein einmaliges Erlebnis. Das kann man gar nicht in Worte fassen, weil man so überwältigt ist in dem Moment. Ich war einfach happy und wollte gar nicht mehr raus aus dem Gerät.“
Thorsten Röhrmann sprach die BG ETEM an, ob die ihm ein Exoskelett finanzieren würde. Dazu wurde eine ärztliche Stellungnahme eingeholt. Denn die Entscheidung, für wen es sich eignet, ist immer eine Einzelfallentscheidung – auch weil ein Exoskelett Ausgaben von rund 100.000 Euro plus Folgekosten bedeutet. Bei Thorsten Röhrmann fiel die Entscheidung positiv aus. Er brachte alle notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Nutzung mit – und kann sich heute ein Leben ohne sein Exoskelett nicht mehr vorstellen.
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