Mehrere weiße Bürostühle stehen in einer diagonalen Reihe, dazwischen ein Rollstuhl.

Medizinisch, beruflich, sozial: Rehabiliation erhält die Beschäftigungsfähigkeit von Mitarbeitern

Marvin Welte aus Mundelfingen im Schwarzwald war 16 und mit dem Moped auf dem Weg zur Arbeit, als ein Pkw bei einem Überholmanöver frontal in ihn hineinkrachte. Marvin wurde mit dem Rettungshubschrauber in die Klinik geflogen. Er überlebte. Aber das linke Bein musste amputiert werden, einschließlich Hüftgelenk. „Wir waren in großer Sorge“, erinnert sich Marvins Mutter Silvia Welte, „wie kommt er zurecht, kann er selbstständig sein in seinem Leben?“ Es war schnell klar, dass er seinen Ausbildungsplatz zum Mechatroniker bei IMS Gear in Donaueschingen behalten würde. „Und er bekam noch am Krankenbett die Zusage, dass er mit der bestmöglichen Prothese ausgestattet wird“, erzählt Stefan Mayr, Reha-Berater der BG ETEM und Ansprechpartner der Familie Welte. Auch der Badumbau im Haus der Eltern war selbstverständlich.

Am einem Tisch sitzen Stefan Mayr (links) und Martin Welte (rechts) vor Kaffetassen. Stefan Mayr hat eine Brille und trägt einen gelben Pullover, Martin Welte trägt eine schwarz-gelbe Trainingsjacke. Sie blättern zusammen in Unterlagen.

Ein starkes Team: Marvin Welte mit seinem damaligen Reha-Berater Stefan Mayr (links). Obwohl er inzwischen nicht mehr arbeitet, ist Stefan Mayr der Familie Welte heute immer noch privat verbunden und steht ihnen auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite.

Marvin Welte gehört zu den sehr jungen Versicherten, um die sich die BG ETEM nach einem Arbeits- oder Wegeunfall kümmert. 2019 erhielten genau 212.376 Versicherte Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe. Ihr Durchschnittsalter lag bei 43,2 Jahren. 12.678 Versicherte wurden rein stationär behandelt, 1.927 machten eine weiterführende stationäre Rehabilitation. Auch nach Ende der medizinischen Maßnahmen leistet die BG ETEM: 305 Versicherte erhielten Kfz-Hilfe, bei 351 wurde der Umbau der Wohnung unterstützt, bei 434 die Arbeitsaufnahme gefördert, 369 nutzten schulisch-pädagogische und berufliche Bildungsmaßnahmen.

Hinter all diesen Zahlen steht eine Verpflichtung. Die Verpflichtung der BG ETEM, mit allen geeigneten Mitteln zu versuchen, Versicherte zu heilen und zu ermöglichen, dass sie wieder arbeiten können. Und auch eine Botschaft steht dahinter: Wir geben niemanden auf! Zur gelungenen Rehabilitation gehören drei Aspekte: die Wiederherstellung der Gesundheit, der beruflichen Einsatzmöglichkeiten und der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Oder fachsprachlich: medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation.

Rehabilitation gehört zu den wichtigen Werkzeugen, um die Beschäftigungsfähigkeit auf allen Hierarchie- und Wissensebenen eines Unternehmens zu erhalten. Dahinter steht nicht nur ein gesellschaftlicher, möglicherweise sogar ein moralischer Anspruch, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Denn neben dem digitalen Wandel fordern die demografischen Veränderungen Unternehmen und Mitarbeitende stark und werden dies in Zukunft immer stärker tun.

Der Fachkräftemangel ist bereits Realität

Seit 2010 ist in Deutschland der Pool an Menschen, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, zwar enorm gewachsen – im Schnitt jedes Jahr um rund 300.000 auf heute etwas mehr als 47 Millionen Menschen. Aber: 2019 war das letzte Jahr, in dem das Arbeitskräftepotenzial noch einmal kräftig zunahm. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung prognostiziert, dass es bereits 2020 nur noch um einige Zehntausend zunehmen wird.

Trotz dieser bisherigen faktischen Zunahme an Arbeitskräften beobachtet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag schon seit Jahren, welche Probleme seine Mitgliedsfirmen haben, Stellen mit Fachkräften zu besetzen. Der DIHK-Report „Fachkräfte 2020“, der im Februar 2020 veröffentlicht wurde, berichtet von Stellenbesetzungsschwierigkeiten bei fast jedem zweiten der 23.000 befragten Unternehmen. In konjunkturunabhängigen Branchen sind mittlerweile 80 Prozent betroffen. Auch in kleinen Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten haben laut Report die Stellenbesetzungsschwierigkeiten im Vergleich zur Vorumfrage leicht zugenommen. Mehr als jedes dritte Unternehmen (39 Prozent), das an der Befragung teilnahm, erwartet, dass es wegen Fachkräfteengpässen Aufträge ablehnen oder sein Angebot einschränken muss.

Loyalität zahlt sich für Arbeitgeber aus

Mitarbeitende zu halten und zu gewinnen, wird daher für Unternehmen immer entscheidender. „Dass Mitarbeitende in ihrer Arbeit einen Sinn sehen und zufrieden sind, ist einer der zentralen Erfolgstreiber für Unternehmen“, sagt Dr. Jutta Rump, Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Internationales Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen sowie Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability. „Nur wenn Mitarbeitende einen Sinn sehen in dem, was sie tun, und Verantwortung daraus ziehen, geben sie wirklich ihr Bestes. Dann können Sie mit den Leuten eine Extrameile gehen, Krisen durchstehen. Darin unterscheidet sich ein sehr erfolgreiches Unternehmen von einem erfolgreichen.“

Die Basis für Zufriedenheit sei vor allem ein stärkenorientierter Personaleinsatz. „Ich muss um die Talente und Interessen meiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wissen, sie fördern und die Menschen entsprechend einsetzen, um Zufriedenheit und Erfolg zu schaffen. An zweiter Stelle kommt der wertschätzende Umgang, also ein Klima, das durch Respekt und Toleranz gekennzeichnet ist. Das muss vorgelebt und in Personalgesprächen eingefordert werden. Und der dritte Schritt sind gute Kommunikation und Partizipation“, sagt Rump, die Botschafterin der Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ist.

Loyale Mitarbeitende erwarteten selbstverständlich, dass auch ihr Arbeitgeber loyal ist. „Ein wesentlicher Faktor eines attraktiven Arbeitgebers ist, dass er zu mir hält, wenn ich erkranke und dass er mit mir zusammen eine Strategie findet, wie ich zurück in den Arbeitsprozess komme.“ Dieser Aspekt sei auch für jüngere Beschäftigte ausschlaggebend bei der Auswahl eines Arbeitgebers. Selbst wenn sie sich vielleicht nicht so häufig mit dem Gedanken an eine Erkrankung auseinandersetzten, seien sie sich doch bewusst, dass sie eine verlängerte Lebensarbeitszeit vor sich hätten. „Ein Unternehmen kann es sich, auch angesichts des demografischen Wandels, nicht leisten, keine Caring Company zu sein. Das spricht sich herum“, warnt Rump. „Als Unternehmer oder Unternehmerin muss ich begreifen, dass Mitarbeitende mein größter Vermögenswert sind, und dass man den pflegen muss.“

Viele Sorgen sind unbegründet

Im Fall von Marvin Welte hat sein Arbeitgeber nicht gezögert, sich loyal zu verhalten und eine Ausbildungsgarantie zu geben – trotz der Aussicht, dass Marvin nach dem Unfall nicht so schnell in den Betrieb würde zurückkehren können. „Wir haben uns am Anfang viele Gedanken gemacht, ob Marvin das kann: acht Stunden an der Drehmaschine oder der Werkbank zu arbeiten“, erinnert sich Uwe Wälde, Ausbildungsleiter bei IMS Gear. „Aber Marvin ist ein sehr motivierter junger Mensch.“ Das Unternehmen sei regelmäßig in Kontakt mit dem Rehamanager der BG ETEM gewesen, um zu klären, ob am Arbeitsplatz etwas angepasst werden müsse. Musste es nicht. Und nach dem Wiedereinstieg von Marvin wurde schnell klar: „Unsere Sorgen waren ganz unbegründet“, sagt Wälde.

Martin Welte (links) trägt ein rotes T-Shirt, sein Bruder steht rechts neben ihm hat blonde Haare und trägt ein grünes T-Shirt. Im Hintergrund sieht man Meer, Felsen und blauen Himmel.

Große Schritte: Nach seiner Ausbildung erfüllte sich Marvin Welte einen Traum und reiste mit einem Work-and-Travel-Visum nach Australien. Dort konnte er mit seinem Bruder Jan nicht nur das Land entdecken, sondern auf australischen Farmen auch richtig mit anpacken.

„Vier von fünf Arbeitgebern, die Menschen mit Behinderung beschäftigen, sagen uns, dass sie keine Leistungsunterschiede feststellen“, bestätigt Christina Marx, Inklusionssprecherin bei der Aktion Mensch. Dennoch haben es alle besonders schwer, eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt zu finden, die durch einen Unfall oder eine Erkrankung eine bleibende Behinderung zurückbehalten haben – oder sie von Geburt an haben. Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 sind 100 Tage länger arbeitslos als andere. Das hat das Handelsblatt Research Institute in einer Studie im Auftrag der Aktion Mensch festgestellt, dem Inklusionsbarometer. Es erscheint seit 2013.

Das Inklusionsbarometer 2019 weist zwar aus, dass die Zahl arbeitsloser Menschen mit Behinderung 2018 mit 156.621 ein Rekordtief erreicht hat, zeigt aber auch, wo Probleme liegen. So ist die Beschäftigungsquote Schwerbehinderter weiter rückläufig und sank 2018 auf 4,63 Prozent. Damit wird die gesetzlich vorgeschriebene Fünf-Prozent-Quote erneut verfehlt. Öffentliche Arbeitgeber übererfüllen die Mindestquote mit 6,5 Prozent zwar, bei privaten Unternehmen machen Schwerbehinderte aber nur 4,1 Prozent der Mitarbeitenden aus. Und nur 74,4 Prozent der Arbeitgeber besetzten 2019 mindestens einen Pflichtarbeitsplatz.

„Dabei ist die Zahl der Qualifizierten unter Menschen mit Behinderung größer als unter Menschen ohne Behinderung“, sagt Christina Marx. Als Ursache für die Zurückhaltung von Arbeitgebern sieht sie Unsicherheiten im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Es sei viel Aufklärungsarbeit zu leisten, so Marx, denn die Zahl der Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitenden und damit mit Beschäftigungspflicht steige. Etwa 165.000 Unternehmen waren es 2019 insgesamt – rund 4.000 mehr als im Vorjahr. Über 2.300 davon haben zwischen 20 und 60 Mitarbeitende.

Marvin Welte steht in kurzer Hose und T-Shirt an einem Holzgeländer, sein linkes Bein besteht aus einer Prothese. Im Hintergrund ist eine Meeresbucht mit hügeligem Land zu sehen.

Marvin Welte hat sich seinen Traum von Australien erfüllt.

Noch viele Unsicherheiten in Unternehmen

Dr. Nancy Reims, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, teilt die Einschätzung, dass Unsicherheit und Fehlinformationen Gründe sind, wenn Unternehmen zögern, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. „Was heißt schon: Behinderung? Menschen mit Behinderung sind eine sehr heterogene Gruppe. Viele sind für bestimmte Berufe gar nicht eingeschränkt – und außerdem gibt es eine breite Palette an Unterstützungsmöglichkeiten.“

Darüber hinaus sei es nicht richtig, dass Menschen mit Behinderung unkündbar wären. „Während der Probezeit gibt es gar keinen Kündigungsschutz. Treten später Probleme auf, stimmt der Integrationsfachdienst in 75 Prozent der Fälle einer Aufhebung des Arbeitsverhältnisses zu.“ Der Beschäftigungsbetrieb habe zudem viele finanzielle Vorteile: Bis zu 96 Monate werden bis zu 70 Prozent des Lohns übernommen, wenn man einen Menschen mit Schwerbehinderung einstellt, es gibt Ausbildungs- und Umbauzuschüsse, außerdem entfällt die Pflichtabgabe. Die Unternehmen sollten auch den Imageaspekt nicht unterschätzen: „Fairness, eine mitarbeiterorientierte und wertschätzende Betriebskultur sind wichtige Pluspunkte im Wettstreit um Mitarbeiter.“ Die Bereitschaft, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, sei in den letzten Jahren gewachsen, sagt Reims. Allerdings fürchtet sie, dass sich die Chancen am Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung verschlechtern.

Die BG ETEM investiert viel in die Rehabilitation ihrer Versicherten. Rund 929 Millionen Euro wurden 2019 für Maßnahmen und Entschädigungen ausgegeben. Fast 560 Millionen flossen in Renten, etwa 300 Millionen in ambulante, stationäre und sonstige Heilbehandlung sowie in Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. „In Studien haben wir uns mit dem Aufwand und dem Nutzen der Rehabilitation befasst. Wir können klar belegen, dass Rehabilitation und eine intensive Heilverfahrenssteuerung sich rechnen“, sagt Jörg Botti, Mitglied der Geschäftsführung der BG ETEM und hier verantwortlich für das Reha-Management.

Das Reha-Management der BG ETEM sei zudem besonders erfolgreich. „Wir haben uns mit Arbeitsunfähigkeitszeiten bei anderen Berufsgenossenschaften verglichen, die weniger intensive Heilverfahrenssteuerung und ein weniger ausgeklügeltes Reha-Management betreiben. Das Ergebnis: Unser Reha-Management trägt zu einer schnelleren Rehabilitation und zu kürzeren Arbeitsunfähigkeitszeiten bei.“ So müsste weniger Verletztengeld gezahlt werden, die Verwaltungskosten würden gesenkt, die Verfahren beschleunigt. „Unser Mitgliedsbetrieb profitiert davon, dass seine Mitarbeiterin oder sein Mitarbeiter schneller an den Arbeitsplatz zurückkehren kann. Das bedeutet für das Unternehmen geringere Ausfallzeiten und damit deutlich geringere Kosten.“ Rehabilitation mit allen geeigneten Mitteln bringt also eine schnellere Wiedereingliederung und rechnet sich auch wirtschaftlich. Damit ist sie eine Win-win-Situation für Unternehmen und Versicherte.

Mit Optimismus in die Zukunft blicken

Das gilt auch für Marvin Welte. Der Mechatroniker kommt mit seiner Prothese gut zurecht und hat gelernt, mit den Folgen des schweren Verkehrsunfalls zu leben. Und er erfüllt sich seine Träume: Gerade erst ist Marvin Welte von einem halbjährigen Australienaufenthalt zurückgekommen. Mit einem Working-Holiday-Visum konnte er sich nicht nur den Kontinent anschauen, sondern auch auf den großen australischen Farmen richtig mit anpacken und stundenlang mit schweren Landmaschinen durch die Gegend fahren. Sein nächstes berufliches Ziel nach der Rückkehr: eine Weiterbildung zum staatlich geprüften Techniker.

Das Bild zeigt einen Acker mit roter Erde in Australien, darauf ein Traktor und weitere Landmaschinen. Im Hintergrund ist ein Waldrand zu sehen.

Work and Travel in Australien: Die Arbeit auf einer Farm ist körperlich sehr fordernd.

Marvin Welte sitzt in einem großen Traktor in einer Maschinenhalle. Er trägt ein rotes Sweatshirt und lächelt in die Kamera mit erhobenem Daumen.

Eine Behinderung muss kein Hindernis sein: Schwere Landmaschinen konnte Marvin Welte mit seiner Beinprothese problemlos fahren.

Natürlich hat Marvin Welte manchmal auch schlechte Tage, zum Beispiel wenn er starke Phantomschmerzen spürt. Aber er bleibt optimistisch: „Ich denke dann immer: Es kommt wieder eine bessere Zeit. Es war davor gut, dann wird’s auch wieder.“